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Gregor Sturm, Ca’ Zen ai Frari, San Polo, Venezia, 07. Oktober 2021 @Baukulturtage

Venedig 2040 – Eine Utopie!

Wie wir zusammen leben wollen, entscheiden wir jetzt.
Wie wir zusammen leben werden, entscheiden wir jeden Tag aufs Neue.

Stellen Sie sich vor –

Venedig ist heute schon ein Ort der Zukunft, wir müssen es nur erkennen. Die Strukturen, das Wegekonzept, die Dichte und Konzentration, die Nutzungsverteilung in der Lagune, all das ist zwar 1600 Jahre gewachsen, also alt und museal auf den ersten Blick – eine kunstgeschichtliche Attraktion – aber gleichzeitig ein einzigartiges städtebauliches Konstrukt, mit dem wir perfekt in die Zukunft starten können. Hier wird seit Ewigkeiten auf engstem Raum miteinander gelebt – auch heute noch.
Das ist die eigentliche Attraktion der Lagunenstadt: Die DNS ihres Genius Loci.

Stellen Sie sich vor –

wir erkennen in der Lage auf Höhe des Meeresspiegels einen feinen Seismographen, umspült von Meerwasser und Wasser aus den Dolomiten
und nehmen die Herausforderung an, mithilfe dieses Instruments für Klimaschutz und die Reinhaltung der Weltmeere zu kämpfen.

Stellen Sie sich vor –

wir nehmen das Positivste aus der Pandemie, packen es mit allen Grundgegebenheiten, die diese Stadt mitbringt zusammen und planen ein Pilot-Projekt Venedig.

Die Veränderungen durch Covid waren hier schneller und stärker zu spüren, als in anderen europäischen Städten.
Von heute auf morgen waren keine Touristen mehr da.
Am Karnevalssonntag 2020 waren noch über 100.000 Besucher:innen in der Stadt, wir waren also insgesamt schätzungsweise um die 200.000 Menschen. Am nächsten Tag war das schlagartig vorbei und zwei Wochen später waren auch die Universitäten geschlossen, die Büros, Geschäfte, Bars, Restaurants und Verwaltungseinrichtungen folgten.

Wir suchten bei den ausgedehnten Spaziergängen, die dem Einkauf des täglichen Bedarfs dienten, sonstige Gänge waren verboten, die anderen Venezianer und fanden sie kaum.
Viele flohen und an manchen Tagen dachten wir, doch die letzten Venezianer zu sein.

„Ist das nicht schön, den Markusplatz mal leer zu sehen?“ wurden wir in fast jeder Videokonferenz gefragt, deren Frequenz sprunghaft in die Höhe schnellte. Das ist tatsächlich einmal schön, aber dann erkennt man schnell, dass dieses Stadtjuwel nur durch die Menschen zum Glitzern gebracht wird, die sie beleben.
Dafür ist sie gemacht. Unbelebt bleibt nur toter Stein.

Stellen Sie sich vor –

dass diese Leere wiederum die kleinen Einsiedlerkrebse unter uns Menschen, vor allem die Kreativen dieser Welt anzog. Die Stadt will gebraucht werden.

Während und nach des ersten Lockdowns kamen sie hierher oder waren hier gestrandet, da ihre Heimatländer die Grenzen bereits geschlossen hatten und der internationale Reiseverkehr komplett zum Erliegen kam.
Es war still und trotzdem brodelte es. Diese Gestrandeten konnten günstig die Wohnungen mieten, die vorher für die touristische Nutzung vorgesehen waren. Sie lebten hier für einige Monate oder manche bis heute, weil Corona die Entwicklung hin zum eigenständigen Arbeiten extrem beschleunigte. Zwei besondere Jahre der Abgeschlossenheit und Offenheit zugleich, die brachten mich zu dieser neuen Utopie.

Stellen Sie sich vor –

wir nutzen die Insellage, um hier schneller und im kleinen unsere Pläne umzusetzen, auszuprobieren – ergebnisoffen – und zu wachsen. Hier wird die Wirkung jeder Handlung schneller sichtbar als an anderen Orten – hier ist alles sehr unmittelbar miteinander vernetzt.

Wir stehen hier in der allerkleinsten Metropole der Welt.

Zur Einordnung:
Passau, Wolfenbüttel, Bad Kreuznach, Gummersbach, Ravensburg, Speyer, Goslar, Böblingen, Elmshorn, Freising, Soest, Oberursel, Oranienburg und Venedig!

Die Größe ist also nicht entscheidend, hier trifft sich die ganze Welt oder kennen Sie einen dieser deutschen Orte, an dem es mehr Kunst und Gastronomie und internationalen Austausch gibt?
Venedig ist auch in Deutschland immer wieder in den Medien, mit Hochwasser, Kreuzfahrtschiffen, Ausstellungen und dem Karneval.
Darum ist hier der ideale Nährboden, um das testen, was den Fortbestand der Menschheit sichern kann,
oder wie es immer genannt wird: die Welt zu retten.

Stellen Sie sich vor –

in nur zwei Dekaden schaffen wir es, diese utopischste Form der lagunaren Urbanistik als Unterfangen des Städtebaus der Zukunft umzusetzen.

Stellen Sie sich vor –

wir könnten die Monokultur des Tourismus dieser Stadt wandeln in eine heterogene Struktur aus nachhaltigen Nutzungen.
Der Tourismus, den die Stadt weiterhin braucht, gestalten wir so, dass er der Stadt hilft, nicht schadet. Die Reisenden erkennen den Mehrwert der Bürgerschaft für diese Stadt, ohne die es z.B. einen Rialto-Markt nicht geben könnte, denn die Fische müssen auch verkauft und nicht nur fotografiert werden.
Die dauerhafte Ansiedlung einer künstlerisch-kreativen Gesellschaft aus der Weltbevölkerung sorgt für zusätzliche Attraktion auf mögliche Neu-Venezianerinnen.

Stellen Sie sich vor –

wir können so die Abwanderung aus der Stadt anhalten und andere, junge, engagierte, geniale, geistreiche, praktische, begabte Menschen in diese Stadt locken, indem wir ihnen den Wohnraum und Wohlfühlraum geben, den sie zum Leben benötigen.
Es hat nicht geschadet, dass viele der ungenutzen Flächen renoviert wurden, um dem Boom der Ferienwohnugen gerecht zu werden. Der Stand der renovierten Bausubstanz ist höher denn je. Jetzt müssen wir diese nur noch umnutzen und für eine dauerhafte Vermeitung zugänglich machen. Das wurde während der Pandemie bereits ausprobiert und hat wunderbar geklappt.

Stellen Sie sich vor –

wir lernen wieder das intelligente, nachhaltige und menschliche Bauen von den alten Venezianern, die schon 1000 Jahre vor dem Bauhaus Tragwerk und Fassade trennten.
Seitdem ich in Venedig lebe, habe ich mehr über Baukonstruktion gelernt als auf der Universität und bei allen Bauleitungen zusammen.
Das Bauen an den Grenzen des Machbaren hat die Venezianer schon immer zu brillanten Ideen beflügelt.
Schon vor dem Jahr 1000 begannen sie, immer mehr Stein zu verbauen, obwohl der Boden dafür überhaupt nicht geeignet ist. Sie haben das viel weiter ausgereizt als an anderen Orten und in anderen Epochen. Sie verbanden all ihre Erfahrungen aus dem Schiffsbau mit der Baukonstruktion von Gebäuden im Schlamm.
Ich versuche es mir oft vorzustellen, wie es war für einen Menschen im Mittelalter, der aus einem dunklen Ort mit kleinen Holzhütten und einer Ziegelkirche stammte, hier anzukommen und die verglasten Fenster des Dogenpalastes zu betrachten, von denen jedes größer ist als seine ganze Hütte war… war es gleichzeitig eine Kombination aus Shanghai und Las Vegas für das Mittelalter?
Wahrscheinlich viel mehr und für uns unvorstellbar.

Stellen Sie sich vor –

dass alle zeitgenössischen Strömungen des vernünftigen Haushaltens mit den Mitteln, die uns die Erde schenkt, hier in der Lagune schon seit ihrer Besiedlung betrieben wurde. Nutzen wir sie wieder für uns!

Stellen Sie sich vor –

wir erkennen wieder den Wert der Lebensmittelproduktion in der Lagune.
Lokaler kann nicht produziert werden. „Brutal lokal seit 1.600 Jahren!“
Noch heute beziehen die Venezianerinnen und Venezianer ganz viel Obst und Gemüse aus der Lagune, früher gab es hier auch noch eine behutsame Fleischwirtschaft. Da man sich jedoch auch von Fisch aus der Lagune ernähren kann, reichte diese Fleischproduktion immer aus.
Was in den Millionenstädten der westlichen Welt wieder als Trend aufgenommen wird, gibt es hier kontinuierlich.
„Urban Gardening“ und Markthalle-9-Konzepte haben hier eine Jahrhunderte alte Tradition.

Stellen Sie sich vor –

das Verkehrswegesystem, dass hier seit jeher entkoppelt war, kann die Idealvorstellung der heutigen Verkehrsplanung sein.
Der schlimmste Verkehrsunfall ist hier ein gebrochener Knochen nach einem Zusammenstoß mit einem anderen Menschen oder ein Bad in der Lagune.
Ernstzunehmende Schiffsunfälle sind fast so selten wie Flugzeugabstürze.

Wie wir zusammen leben wollen, entscheiden wir jetzt!

Stellen Sie sich vor –

dass Sie im immer schon Seuchen erprobten Venedig ein drittes prächtiges Gebäude des 21. Jahrhunderts planen und bauen, welches der Überwindung der Corona-Pandemie gewidmet sein wird.
Wir brauchen wertvolle Architektur, um vor allem an den Rändern auf zeitbedingte Nutzungsänderungen reagieren zu können. Verbinden wir das mit der Tradition, die hier nach jeder großen Seuche, wie der Pest immer einen imposanten Sakralbau:

Il Redentore und La Madonna de la Salute, entstehen ließ.

Stellen Sie sich vor –

wir bekommen ganz schnell und unproblematisch eine passende Antwort auf das Ende des Individualverkehr in den Städten.
Wir bauen die Parkhäuser und anderen Strukturen am Piazzale Roma in ein neues Stadtviertel mit viel Grünflächen um und lassen auf dem Tronchetto ein kluges Quartier entstehen, in dem die nächsten Generationen, leben, arbeiten und auch feiern können.

Stellen Sie sich vor –

im ehemaligen Industrie- und Hafengebiet von Maghera entstehen weitere urbane Strukturen, die auf die jüngsten Anforderungen an den Städtebau und den Flächenbedarf reagieren können.

Nach der Pandemie werden die Menschen erkennen, dass die zur Zeit so gefürchteten Aerosole genau das sind, was Gemeinschaft ausmacht. Die Haut und die Lunge sind unsere größten Organe. Damit nehmen wir diese Aerosole unserer Mitmenschen auf.
So atmen wir Stimmungen und Gefühle – nur so spüren wir unsere Herde.
Darum sind große Live-Veranstaltungen und Clubs, Bars, Diskotheken, Konzerte auch das, was eine große Renaissance haben wird.
Im Arsenale, am Piazzale Roma, auf dem Tronchetto und an den Rändern der Lagune, wie z.B. in Maghera, gibt es viele potentielle Berghains!

Stellen Sie sich vor –

sie benutzen die Unterwassserschächte des MOSE als Radweg von Chioggia bis Punta Sabbioni!

Stellen Sie sich vor –

wir bauen auf dem Tronchetto ein Fahrradparkhaus und auf der Ponte della Liberta einen Park mit Fuß- und Radwegen, wie in Copenhagen oder New York, der vom Festland über die Lagune mitten in die Stadt führt.
Stellen Sie sich vor, wir bauen den Bahnhof um in einen großen Konzertsaal, den es in Venedig bisher noch nicht gab.

Stellen Sie sich vor –

wir schaffen in Venedig Kunst und konsumieren sie hier nicht nur.
Schaffen wir Ateliers auf den neuen und umgenutzen Flächen, um für Künstler:innen aus aller Welt einen Lebens- und Schaffensmittelpunkt zu bieten, der an Inspiration seines Gleichen sucht.

Stellen Sie sich vor –

Murano wird das weltweite Zentrum eines nachhaltigen, innovativen Kunsthandwerks, wie wir es immer suchen.
Die diesjährige Venice Glass Week hat gezeigt, dass auch hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Die Menschen kaufen wieder Kunst und Kunsthandwerk, da sie mehr Zeit in ihrem Zuhause verbringen und es sich dort schön machen wollen.

Stellen Sie sich vor –

wir überwinden die Nationalstaatlichkeit hier noch schneller und erklären Venedig zu einem Projekt der Europäischen Union.
Ein Sonderstatus, eine europäische Stadt, das verbände einen alten venezianischen Anspruch mit einem modernen übernationalem Europa-Gedanken.
Wir konzentrieren das weltweite Interesse an dieser Stadt und nutzen die sprudelnden Förderungen für unsere Utopie!

Stellen Sie sich vor –

wir erkennen den Mustercharakter einer urbanen Struktur die am Limit des menschlichen Lebensraums aus einer Notwendigkeit heraus vor 1600 Jahren entstanden ist und überführen diese Erkenntnisse als mögliche Lösungen unserer Probleme der Zukunft. Wir müssen uns nichts Neues ausdenken, wir müssen nur das Vorhandene richtig lesen.

Stellen Sie sich vor –

dass die Entkopplung vieler Arbeitsplätze von deren übergeordneten Strukturen, die jetzt viele Unternehmen betreiben genau der ideale Weg ist, der die Zukunft für Venedig sichern könnte.
Die benötigten Büroflächen werden immer weniger und ortsungebundener.
Smart Working wird unser Leben stark verändern.
Ich merke es extrem, wie viel weniger ich reisen muss und dass ich dort arbeiten kann, wo auch immer ich das möchte.
Noch sitzen die Menschen in ihren Wohnungen in den Großstädten, werden aber immer freier in der Wahl ihres Wohnorts, sei es auf dem Land oder in einer anderen Stadt oder an dem Traumort, wohin man schon immer wollte.

Stellen Sie sich vor –

wir würden zum Schutz der Meere hier sofort das ganze Einwegplastik und Zigarettenfilter durch kompostierbare Materialen ersetzen.

Stellen Sie sich vor –

wir wertschätzen wieder das ganze 1600 Jahre gewachsene handwerkliche kollektive Wissen dieser Stadt und nutzen es für unsere Entwürfe, solange es hier noch Menschen wie Goldschläger und Glasbläser, Spitzenklöpplerinnen und Buchbinder gibt.

Stellen Sie sich vor –

wir produzieren die Energie, die wir benötigen, einfach hier vor der Küste.

Stellen Sie sich vor –

wir schaffen das!

Stellen Sie sich vor –

wir fangen heute damit an!
Dann haben wir in 20 Jahren einen Ort, an dem wir alle gerne zusammenleben wollen!

Gerne möchte ich Sie einladen, mit mir diese Utopien weiter zu entwickeln und in Ihre Institutionen und die Lehre zu tragen.

Venedig braucht Einwohner,
Menschen die sich mit dieser Stadt identifizieren und bereit sind, den Zustand dieser einzigartigen Stadt zu leben. Aber zur Rettung dieser Stadt brauchen wir die die kollektive Identität aller Menschen!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit bei der utopischen Wiedergeburt einer 1600 Jahre alten Idee!